Literatur | Philosophie | Sprache
Tina Bolliger, 2003 | Berikon, AG
Viel häufiger als in der Erwachsenenliteratur finden vermenschlichte Tiere in Kinderliteratur Verwendung. Um herauszufinden, was Anthropomorphismen in der Kinderliteratur leisten, wurden drei Werke der Kinderliteratur analysiert, welche einen Dachs als Protagonisten beinhalten: «Dachs im Dickicht – Ein Waldkrimi – Hasenhunger» von Anna Starobinets, «Dachs und Stinktier suchen einen Schatz» von Amy Timberlake und «Dachs und Rakete – Ab in die Stadt!» von Jörg Isermeyer. Die Analyse wurde dabei in einem breiten Kontext verortet, der sowohl die Konnotation des Dachses in der literarischen Tradition als auch diverse Diskurse um den Anthropomorphismus einbezieht.
Fragestellung
Diese Arbeit untersucht, welche Funktionen das Stilmittel des Anthropomorphismus in Kinderliteratur einnimmt, welcher Mehrwert aus der Nutzung dieses Phänomens hervorgeht und weshalb in den untersuchten Büchern ein Dachs (und nicht ein anderes Tier) Verwendung findet.
Methodik
In der Analyse der drei gewählten Werke fanden verschiedene Methoden der Textinterpretation Verwendung: Zum einen wurde anhand von Zitaten eine hermeneutische Untersuchung, zum anderen eine rezeptionsästhetische Untersuchung durchgeführt. Der Analyse der Verwendung des Anthropomorphismus zugrunde liegt eine eigens erstellte Tabelle, welche biologische Attribute des Dachses von menschentypischen Erscheinungen abgrenzt.
Ergebnisse
Die Analyse führt zu folgendem Schluss: Je ausgeprägter die Vermenschlichung ist, desto weniger Relevanz besitzt die Wahl des Tieres. Als Mehrwert des Anthropomorphismus in Kinderliteratur stellte sich in erster Linie die Distanz zur Realität heraus: Es ist anzunehmen, dass Kinder durch die äusserlichen Differenzen zu den Protagonisten keine direkte Verbindung zwischen der Geschichte und dem eigenen Leben ziehen. Dadurch können Autor:innen ernstere Themen vermitteln. Dies wird unterstützt durch die Empathie-stimulierende Wirkung des Anthropomorphismus. Sie ist ein weiterer Vorteil, weil man dadurch viel leichter pädagogische Inhalte vermitteln kann. Zudem lässt dieses Stilmittel viele künstlerische Freiheiten. Durch ihre grundlegenden Differenzen des Erscheinungsbildes können die Individuen zudem leichter unterschieden werden. Auch komische Szenen lassen sich leichter kreieren, weil die beschriebene Welt von vornherein von der Norm abweicht. Zudem zeigt die Arbeit, dass die Konnotation des Dachses, wie er in der Literaturgeschichte namentlich aus der Fabel bekannt ist, zu einem gewissen Grad in die Kinderliteratur einfliesst. Die typischen Attribute des Dachses als ruhiges und einzelgängerisches Tier (die übrigens den biologischen Tatsachen nicht entsprechen) werden dabei weniger stark aufgegriffen als die auch kommerziell häufig genutzte, davon abgeleitete Eigenschaft des Dachses als «Problemlöser». Der Charakter wird jedoch in der Kinderliteratur, selbst wenn er an diese Konnotation angelehnt ist, neu eingeführt, da Kinder kaum ein derart grosses Allgemeinwissen besitzen, dass von einer automatischen Assoziation ausgegangen werden könnte.
Diskussion
In der Arbeit konnten die Fragestellungen anhand einer Stichprobe von drei Kinderbüchern untersucht werden. Um genauere Daten zu erheben, müsste man weitere Werke mit einem Dachs als Protagonisten analysieren. Zudem könnte die inhaltsanalytische Tabelle, welche genutzt wurde, um den Grad des Anthropomorphismus zu untersuchen, mit weiterführenden philosophischen Diskussionen überarbeitet werden. Beispielsweise ist (bisher) nicht gesichert, ob Tiere menschenähnliche Emotionen verspüren oder ob die Darstellung tierischer Gefühle bereits eindeutig als Anthropomorphismus zu werten sind.
Schlussfolgerungen
Diese Arbeit hat gezeigt, dass Anthropomorphismus in literarischen Werken akzeptiert ist und seine Anwendung Schriftsteller:innen viele Vorteile bringen kann. So können künstlerische Freiheiten genutzt, pädagogische Inhalte leichter vermittelt und bereits existierende Assoziationen für die Gestaltung eines Tiercharakters verwendet werden. Die Potenziale des Anthropomorphismus für die Didaktik könnten durch eine empirische Studie mit Kindern noch praxisorientierter untersucht werden. Eine andere Möglichkeit, die Arbeit zu erweitern, bestünde darin, weitere Tiere zu untersuchen.
Würdigung durch die Expertin
Dr. Aleta-Amirée von Holzen
In ihrer umfangreichen Arbeit fragt Tina Bolliger nach dem Nutzen der Darstellung anthropomorpher Tiere in der Kinder- und Jugendliteratur und untersucht dazu drei aktuelle Kinderromane vertieft. Der Dachs erweist sich als geschickt gewähltes Beispiel, dessen Konnotationen sie in beeindruckender Breite interdisziplinär recherchiert hat. Durch die reflektierte Kombination verschiedener literarischer Analyseverfahren gelingt ihr eine fundierte, vielschichtige und überzeugende Aufschlüsselung der literarisch-pädagogischen Funktion des Dachses und damit des Anthropomorphismus.
Prädikat:
sehr gut
Kantonsschule Wettingen
Lehrer: Urs Baldinger