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Annika Kernland, 2005 | Bülach, ZH

 

War der Urgrossvater ein Widerstandskämpfer gegen die Nazis? – Das «Dritte Reich», wie es die Zeitzeug*innen aus verschiedenen Ländern ihren Enkel*innen erzählen, unterscheidet sich deutlich von dem Bild, das unser Geschichtswissen uns liefert. Interessant ist dabei, dass die nachfolgenden Generationen die Geschichten deutlich anders schildern und ihren Kindern weitergeben, als die Zeitzeugen es selbst tun. Diese Arbeit untersucht, wie die Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus im kommunikativen Gedächtnis zweier Familien – einer aus Deutschland und einer aus Norwegen – weitergegeben werden und wie sie sich dabei verändern. Dabei wurde mit der Oral History Methode und Quellen von jeweils vier verschiedenen Generationen gearbeitet. Meine Arbeit zeigt auf, dass die Narrative der Erzählungen aus dem «Dritten Reich» in beiden Familien von einer kumulativen Heroisierung der Vorfahren geprägt sind, die von diversen Deutungsmustern getragen und gerechtfertigt werden. Strukturell sind sich die Veränderungen der Geschichten in den beiden Ländern auffallend ähnlich, obwohl Deutschland und Norwegen auf unterschiedlichen Seiten der Geschichte standen.

Fragestellung

Meine Arbeit untersucht, wie sich die Erzählungen der Zeitzeugen des «Dritten Reichs» über vier Generationen in den Familiengedächtnissen meiner Familien mütterlicherseits und väterlicherseits hinweg verändern. Dabei wird der Fokus nicht darauf gelegt, was tatsächlich geschah, sondern vielmehr, was in der Familie jeweils erzählt wird und welches Narrativ dabei entsteht. Zudem wird analysiert, wie sich die Tradierung der Erzählungen in den Ländern Deutschland und Norwegen unterscheidet und inwiefern dies mit deren jeweiliger Rolle im Zweiten Weltkrieg zu tun hat.

Methodik

Es wurde vorwiegend mit der Oral History Methode gearbeitet. Dazu wurden Interviews mit Familienmitgliedern durchgeführt, die verschiedenen Generation angehören. Aus jedem Land und jeder Generation wurde jeweils eine Person zu ihrer Version des Familiengedächtnisses befragt. Ergänzend wird ein Tagebuch des norwegischen Zeitzeugen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs als Quelle herangezogen, da dieser bereits verstorben ist und nicht mehr interviewt werden konnte. Grundlage der Analyse bildet die sozialpsychologische Theorie des Familiengedächtnisses, insbesondere basierend auf dem Buch „Opa war kein Nazi“ von Welzer et al.

Ergebnisse

Obwohl Norwegen und Deutschland auf unterschiedlichen Seiten im Zweiten Weltkrieg kämpften, verläuft die Tradierung und mit ihr die Veränderung der Geschichten in beiden Familiengedächtnissen auffallend ähnlich. Sowohl in der deutschen als auch in der norwegischen Familie durchlaufen die Erzählungen über vier Generationen eine kumulative Heroisierung. Diese wird durch eine Fülle von Deutungsmustern getragen und gerechtfertigt.

Diskussion

Die Interviews unterscheiden sich alle stark in ihrer Form voneinander: eines wurde per Telefon geführt, ein anderes in Person aber mit weiteren Familienmitgliedern anwesend, bei einem weiteren handelt es sich um ein Gespräch am Familientisch, ohne Anwesenheit eine*r klaren Interviewer*in. Bei einer weiteren Primärquelle handelt es sich um ein Tagebuch, das einer vollkommen andere Form unterliegt als ein Interview. In zukünftigen Forschungen wäre es daher sinnvoll, eine einheitliche Interviewform zu wählen.

Schlussfolgerungen

Die Sekundärliteratur zur Tradierung der Erzählungen aus dem «Dritten Reich» fokussiert sich auf Deutschland und beschreibt dieselben Phänomene wie meine Arbeit. Die Heroisierung wird darin auf eine Rechtfertigungsnot zurückgeführt, die in Deutschland aufgrund der Kollektivschuld entsteht. In Norwegen, das diesbezüglich bisher kaum erforscht wurde, existiert diese Kollektivschuld nicht, doch es bildete sich dennoch ein Narrativ, das einer Heroisierung folgt. Weshalb dies geschieht, wäre bereits Stoff für zukünftige Forschung.

 

 

Würdigung durch die Expertin

Christine Stuber

Die Autorin untersucht , wie sich Familienerzählungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs im Laufe von vier Generationen hin zu einer Heroisierung verändern. Erklärungen dafür findet die Autorin in der wissenschaftlichen Literatur, in der dieses Phänomen für Erzählungen aus der Zeit des Nationalsozialismus gut dokumentiert ist. Was die Relevanz der Arbeit ausmacht, ist der Umstand, dass die Autorin dasselbe Phänomen bei den nachfolgenden Generationen auch in Norwegen feststellt. Das macht die Relevanz dieser sorgfältig gestalteten und analytisch präzisen Arbeit aus.

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Kantonsschule Zürcher Unterland, Bülach
Lehrerin: Marion Baumann