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Bettina Gabriel, 2005 | Möriken-Wildegg, AG

 

Acht Prozent aller Männer sowie ein Prozent aller Frauen im westeuropäischen Raum sind von der Rot-Grün-Sehschwäche betroffen. Die Rot-Grün-Sehschwäche wird X-chromosomal vererbt. Normalerweise ist das Verhältnis der paternalen und maternalen X-Chromosomen nach der X-Inaktivierung 50:50, jedoch weisen zehn bis 15 Prozent aller Frauen eine Verschiebung dieses Gleichgewichtes auf. Überwiegen in den Photorezeptorzellen die X-Chromosomen mit dem Gendefekt die X-Chromosomen ohne Gendefekt, wäre eine Ausprägung bei Konduktorinnen eines X-chromosomal-rezessiven Gendefektes möglich. In dieser Arbeit wurde untersucht, ob Konduktorinnen der Rot-Grün-Sehschwäche diese phänotypisch ausprägen können. Dafür wurde der standard Ishihara-Sehtest mit sechs Parametern modifiziert, um ihn sensitiver zu machen. Mit diesem wurden sieben Konduktorinnen und sieben normalsichtige Frauen getestet. Alle Konduktorinnen wurden durch den verwendeten Sehtest als Personen mit einer ausgeprägten Rot-Grün-Sehschwäche eingestuft. Diese war unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Penetranz betrug 100% aller getesteten Konduktorinnen. Die durchschnittliche Stärke der Ausprägung betrug 26.45%. Die Probandinnen der Kontrollgruppe haben den Sehtest fehlerlos bestanden und konnten somit alle als normalsichtig eingestuft werden.

Fragestellung

Können Konduktorinnen der Rot-Grün-Farbsehschwäche diese phänotypisch ausprägen?

Methodik

Für den Untersuch wurde der Ishihara-Sehtest mit sechs differenzierten Parametern modifiziert. (Distanz zwischen Testtafel und Probandin/ Gedimmtes Licht/ Grünes Licht/ Rotes Licht/ Sukzessivkontrast mit grünem Papier/ Sukzessivkontrast mit rotem Papier). Die einzelnen Parameter wurden aufgrund ihres Einflusses auf die Farbwahrnehmung gewählt. Der Untersuch bestand aus jeweils 12 Durchläufen des modifizierten Ishihara-Sehtests. Es wurde jeweils ein veränderter Parameter separat auf dem rechten sowie dem linken Auge getestet. Während den verschiedenen Durchläufen des modifizierten Sehtests wurden bestimmte Grundbedingungen eingehalten, um auszuschliessen, dass äussere Einflüsse die Resultate verfälschen. Der Untersuch wurde mit Konduktorinnen und einer Kontrollgruppe durchgeführt.

Ergebnisse

Die Konduktorinnen haben im Durchschnitt zwischen 4.7-16.9 von 17 Testtafeln richtig erkannt. Da keine Konduktorin den Test fehlerlos bestand, wurden alle als Personen mit einer phänotypisch ausgeprägten Rot-Grün-Sehschwäche eingestuft. Alle sieben Probandinnen der Kontrollgruppe wurden als normalsichtig eingestuft. Die einzelnen Parameter unterscheiden sich in ihrer Wirkung. Das durchschnittliche Richtigerkennen der Testtafeln pro Parameter liegt zwischen 8.4-15.6 von 17 Testtafeln. Dabei wurden beim Parameter 4 (Rotes Licht) im Durchschnitt am meisten Testtafeln richtig erkannt und beim Parameter 6 (Sukzessivkontrast mit rotem Papier) am wenigsten. Die beiden Augen der Konduktorinnen wurden separat mit insgesamt 102 Testtafeln untersucht. Im Vergleich des rechten und linken Auges konnte bei einer Probandin kein Unterschied, bei fünf Probandinnen ein leichter Unterschied zwischen 1-4 Testtafeln und bei einer Probandin ein grosser Unterschied von 20 Testtafeln festgestellt werden. Die Werte aller rechten und linken Augen unterscheiden sich nicht signifikant. Bei den Konduktorinnen konnte eine Penetranz von 100% und ein Severity Index von 26.45% festgestellt werden, wobei der Severity Index der Fehlerquote entspricht.

Diskussion

Die Fehlerquote des korrekten Erkennens der Testtafeln durch die Konduktorinnen dieser Arbeit mit 26.45% ist gut vergleichbar mit der Fehlerquote in der Publikation «A Study of Women Heterozygous for Colour Deficiencies» von G. Jordan und J.D. Mollon (1993), welche 28% entspricht. Im Unterschied zur Untersuchung von G. Jordan und J.D. Mollon wurden bei der vorliegenden Arbeit die beiden Augen der Konduktorinnen separat getestet und der Ishihara-Sehtest modifiziert. Da alle Konduktorinnen als fehlsichtig eingestuft wurden, liegt die Penetranz bei 100%. Da die durchschnittliche Stärke der Ausprägung mit 26.45% jedoch eher gering ist, lässt sich die hohe Penetranz durch einen sensitiveren Sehtest erklären. Dadurch entsteht die Annahme, dass der Sehtest durch die Modifizierungen und das separate Testen der Augen tatsächlich sensitiver geworden ist.

Schlussfolgerungen

Die Resultate zeigen auf, dass es für Konduktorinnen der Rot-Grün-Sehschwäche nicht nur möglich ist, diese phänotypisch auszuprägen, sondern dass mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Mehrzahl der Konduktorinnen betroffen sind.

 

 

Würdigung durch den Experten

Dr. Markus Niessen

Bettina Gabriel hat in ihrer Arbeit die phänotypische Ausprägung der X-chromosomal vererbten Rot/Grün-Farbsehschwäche bei Konduktorinnen untersucht. Konduktorinnen tragen ein defektes und ein intaktes Allel und galten bis anhin in der Regel als normalsichtig. Bettina Gabriel hat auf höchst innovative Weise den bisher gebräuchlichen Ishihara Farbsehtest verbessert und konnte mit diesem zeigen, dass alle sieben getesteten Konduktorinnen eine Rot/Grün-Farbsehschwäche aufweisen. Die Arbeit beeindruckt durch ein hohes Mass an Wissenschaftlichkeit und Eigenleistung.

Prädikat:

sehr gut

Sonderpreis «International Summer Science Institute (ISSI)» gestiftet vom Weizmann Institut

 

 

 

Alte Kantonsschule Aarau
Lehrer: Dr. Stephan Girod