Gestaltung  |  Architektur  |  Künste

 

Rahul Andrea Gandbhir, 2006 | Binningen, BL

 

Die tonale Harmonik ist eine der zentralen Eigenschaften der westlichen klassischen Musik. In der harmonischen Analyse wird traditionellerweise ein qualitativer Ansatz gewählt, der auf den individuellen Repertoirekenntnisse der Forschenden aufbaut und allgemeine Aussagen an einer kleinen Zahl von Beispielen darstellt. Diese Arbeit wählt wie andere kürzlich veröffentlichten Untersuchungen einen quantitativen Ansatz. Sie versucht die statistischen Eigenschaften der Harmonik in Beethovens Klaviersonaten und Streichquartetten zu erfassen und zu vergleichen. Die Analysen werden an zwei kürzlich veröffentlichen Datensätzen harmonischer Annotationen durchgeführt. Die angewendeten Methoden stützen sich auf eine Untersuchung von Moss, Fabian C. et al. zur statistischen Charakterisierung der tonalen Harmonik in Beethovens Streichquartetten. Mithilfe von rechnergestützten Auswertungen wird in dieser Arbeit gezeigt, dass (1) tonale Harmonik in Beethovens Klaviersonaten und Streichquartetten grösstenteils durch wenige Akkorde bestimmt wird; (2) die Vorhersage von Akkordübergängen deutlich durch bestimmte Akkordmerkmale beeinflusst wird und; (3) sich die Vorhersagbarkeit und Symmetrie von Akkordübergängen in Beethovens Klaviersonaten von der in den Streichquartetten unterscheidet.

Fragestellung

Inwiefern lassen sich zwischen Beethovens Klaviersonaten und Streichquartetten statistische Unterschiede in der Harmonik feststellen?

Methodik

Grundlage für die Analysen bilden zwei kürzlich veröffentlichte Datensätze von Neuwirth, Markus et al. und Hentschel, Johannes et al.: Im Rahmen der Corpus Initiative des Digital and Cognitive Musicology Laboratory (DCML) an der EPFL wurde alle Streichquartette von Ludwig van Beethoven und ein Grossteil seiner Klaviersonaten harmonisch annotiert. Der theoretische Ausgangspunkt der Analyse bildet das n-Gramm-Modell. Seine Grundannahme besagt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Akkords c(i) aus einer Akkordsequenz c(1), …, c(i) durch die (n-1) ihm unmittelbar vorausgehenden Akkorde approximiert werden kann. Diese Arbeit beschränkt sich bei der Analyse auf die Untersuchung von Mono- (n=1) und Bigrammen (n=2). Bei den Akkord-Monogrammen wurde die Rang-Häufigkeit betrachtet. Bei den Akkord-Bigrammen wurden die Akkordübergange hinsichtlich Häufigkeit, Vorhersagbarkeit (mithilfe von Hypothesentests) und Symmetrie untersucht. In den Analysen wurde zwischen lokalen Dur- und Moll-Tonartabschnitten unterschieden.

Ergebnisse

Bei der Analyse der Rang-Häufigkeit der Akkord-Monogramme fiel auf, dass diese durch eine Mandelbrot-Zipf-Kurve approximiert werden kann: Wenige Akkorde (I/i, V, V7 und I6/i6) machen einen Grossteil der Harmonik aus. Es zeigt sich, dass in den Streichquartetten I/i häufiger auftreten als in den Klaviersonaten. Hingegen kommen V und V7 in den Klaviersonaten häufiger vor. Bei der Untersuchung der Häufigkeit der Akkordübergänge wird festgestellt, dass einige Ausgangsakkorde sehr häufig in bestimmte Zielakkorde übergehen. So beispielsweise V2 in I6 und V(64) mit Vorhalt in über 80 % der Fällen in V oder V7. Diese Merkmale lassen sich sowohl in den Streichquartetten als auch in den Klaviersonaten entdecken. Mithilfe von Hypothesentests konnte gezeigt werden, dass Ausgangsakkorde mit bestimmten Eigenschaften (Vorhalte, Tonikalisierungen, etc.) eine höhere Vorhersagbarkeit haben. Auch zwischen Streichquartetten und Klaviersonaten gibt es Unterschiede. Akkorde in letzteren haben eine grössere Vorhersagbarkeit. Bei der Analyse der Symmetrie zeigte sich, dass die Akkordübergänge sowohl in den Klaviersonaten als auch in den Streichquartetten stark asymmetrisch sind, also Übergange von A nach B häufiger vorkommen als von B nach A.

Diskussion

Die Ergebnisse fügen sich teils sehr gut in die bestehende Theorie ein und widerspiegeln Erkenntnisse aus der vorherrschenden Lehre. Sie bestätigen unsere Erwartungen über Grundmerkmale der tonalen Harmonik. Andererseits gibt es auch eine Reihe von überraschenden und ungeklärten Beobachtungen. Diese folgen nicht direkt aus der bekannten Theorie und lassen daher offene Fragen. Aufgrund mangelnder Vergleichsmengen ist schwer deren Signifikanz einzuschätzen. Um diese zu klären, ist ein Blick in die entsprechenden Stellen in der Partitur notwendig.

Schlussfolgerungen

Die quantitative statistische Analyse hilft bei zu einem umfassenderen Verständnis der Korpora. Sie birgt grosses Potenzial, auch weit über diese Arbeit hinaus. Jedoch bleibt eine qualitative Analyse notwendig, um die Bedeutung der Entdeckungen einzuschätzen und anhand konkreter Beispiele im Kontext zu verstehen.

 

 

Würdigung durch den Experten

lic. phil. Lorenz Kilchenmann

Datengestützte quantitative Methoden stellen ein noch wenig genutztes Potential in der musikwissenschaftlichen Strukturanalyse dar. In seiner Arbeit untersucht Rahul Gandbhir auf der Grundlage der statistischen Methodik aktueller Publikationen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Harmonik von Beethovens Klaviersonaten und Streichquartetten. Seine Ergebnisse bestätigen einerseits erwartete Grundmerkmale der tonalen Harmonik. Andererseits zeigen sie aber auch unerwartete Unterschiede zwischen den Werkgruppen, die sowohl methodisch als auch musikanalytisch interessante Fragen aufwerfen.

Prädikat:

gut

 

 

 

Gymnasium Oberwil
Lehrerin: Viviana Palumberi