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Linus Truninger, 2003 | Winterthur, ZH

 

Ogygia, eine Kammeroper in vier Szenen, erzählt die Beziehung von Odysseus und Kalypso auf der gleichnamigen Insel am Ende der Welt auf neue Art und Weise. In ihrer Hassliebe für einander wechseln die gegenderten Rollen von Verführer/in und Verführte/r und am Ende werden diese Rollen, der klassische Heldenmythos, die Musik und Ogygia selbst vollständig verlassen. Die Musik wurde dem Text entlang in einem eigenen, zwischen Tonalität und Atonalität schwankendem experimentellen Stil komponiert und sowohl Partitur als auch Libretto in einem Kommentar näher erklärt und reflektiert.

Fragestellung

Die Beziehung von Text und Musik im Schreiben und Komponieren einer Kammeroper selbst zu erleben und zu gestalten, dabei einen eigenen Stil und Ausdruck zu finden und in einer Revision dem mythischen Stoff von Odysseus auf Ogygia eine neue Bedeutung zu geben, waren meine Ambitionen bei der Verfassung von Ogygia. Adaption und Revision eines antiken Mythos und der Vergleich resp. die Abgrenzung vom Original und früheren Bearbeitungen gaben zudem Anlass, über die Kraft und Aufgabe von Mythen generell und dahinblickend wiederum über meine eigene Version nachzudenken.

Methodik

In einer Neuerzählung des gewählten Stoffs, der Beziehung von Kalypso und Odysseus auf Ogygia, schrieb ich ein Libretto in einer freien lyrischen Sprache. Während der Verfassung des Librettos ergaben sich aus den geschriebenen Versen bereits Stimmungen und Rhythmen, auf welchen ich bei der am Text orientierten Komposition aufbauen konnte. Die Auffrischung von musiktheoretischem und das Neulernen von grundlegendem kompositorischem Wissen bildete die technische Voraussetzung für die Vertonung des Textes für drei Gesangsstimmen und Klavier mit dem Notensatzprogramm MuseScore. Die Komposition orientierte sich an mit Inhalt und Text verbundenen Motiven und verlässt zeitweise die Tonalität. In einem Kommentar zum Stück wurde der Arbeitsprozess beschrieben und eine inhaltliche Deutung des Stücks vorgenommen. Mit einer auch zeitlichen Distanz wurde dieser Kommentar für SJF noch einmal überarbeitet und um eine knappe Einordnung in einen kulturhistorischen Kontext ergänzt.

Ergebnisse

Das fertige Stück umfasst ein Libretto in 4 Szenen und eine Partitur mit 21 Stücken. Es erzählt die Geschichte von Odysseus und Kalypso als Spannungsfeld von Einsamkeit und Abscheu, Liebe und Hass, wobei die Rollen von Verführer/in und Verführt/er ambivalent gestaltet sind. In der Durchbrechung des homerischen Heldenmythos bleibt Odysseus’ auf Ogygia und findet nie seine Heimat. Es ist Kalypso, welche den Mut hat, ihr Gefängnis, das sich als keines herausstellt, zu verlassen und sich auf das weite Meer hinauszuwagen. Im Sinne einer Mythenrevision habe ich dem antiken Stoff also eine neue Deutung beigemessen.

Diskussion

Das Stück wurde vollendet und bildet inhaltlich und musikalisch eine Einheit, Text und Musik stehen zu einander in Bezug, haben sich während des Arbeitsprozesses gegenseitig beeinflusst und drücken den Inhalt der Geschichte aus. In Anbetracht der Tatsache, dass das Stück eine meiner ersten Kompositionen darstellt, bin ich mit dem Resultat sehr zufrieden – mit grösserer kompositorischer Fertigkeit könnte die Partitur jedoch noch verfeinert werden. Die Begleitung könnte beispielsweise auf mehr Instrumente ausgeweitet werden. Ausserdem ist das Stück nie aufgeführt worden, wobei das Einstudieren und die Interpretation wiederum Input für weitere Überarbeitungen sein könnten. Inszenierung und Scenographie würde dem Stück zusätzliche ästhetische Ebenen eröffnen. Der kulturhistorische Kontext und die Mythenforschung sind grosse Felder an sich und könnten mehr als bloss gestreift werden. Das Stück steht nicht nur in einer Tradition der Adaption und Revision des Odysseus-Stoffes. Diese Veränderung des Mythos entspricht der Art und Weise, wie Mythen ihre Wirksamkeit in sich ändernden Kulturen erhalten und wie Kulturschaffende mit Mythen Gesellschaften zur Verhandlung von Themen bringen.

Schlussfolgerungen

Mit Ogygia ein eigenes Stück zu schreiben und zu vertonen war eine ehrfahrungsreiche, herausfordernde und ergiebige Arbeit. Die Neudeutung und -erzählung eines traditionsreichen Stoffes, die Schöpfung einer Kammeroper in Verknüpfung von Inhalt, Text und Musik, das Finden eines eigenen Stils und einen Ausschnitt dieses Werkes umgesetzt zu sehen, all das waren spannende Arbeitsfelder. Für den Moment will ich die Reise nun aber verlassen und bin zufrieden mit den gesammelten Erfahrungen und dem Stück. Ich meine damit einen neuen Beitrag zu einem der prägendsten Mythen unserer Kultur gemacht zu haben.

 

 

Würdigung durch den Experten

Dr. Leo Dick

Das Projekt «Ogygia» von Linus Truninger besteht aus einer kritisch reflektierten Umformung der Kalypso-Episode aus Homers Odyssee in eine moderne Kurzoper. Linus zeichnet verantwortlich sowohl für Libretto, Komposition als auch für eine erste klanginszenatorische Umsetzung und stellt sein Tun in einen historischen Kontext der Mythenadaption auf der Opernbühne. Auf intelligente und sinnlich erfahrbare Weise zeigt er mit seiner künstlerischen Forschung auf, dass Mythen darauf angewiesen sind, laufend um- und fortgeschrieben zu werden, um ihre identitätsstiftende Kraft bewahren zu können.

Prädikat:

sehr gut

Sonderpreis «Einen Tag auf dem Campus der Künste Basel» gestiftet von der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW

 

 

 

Kantonsschule Rychenberg, Winterthur
Lehrer: Jürg Rüthi