Geschichte | Geographie | Wirtschaft | Gesellschaft
Annika Wegener, 2005 | Fribourg, FR
Diese Maturaarbeit bietet einen historisch-literarischen Überblick über die Erinnerungskultur in Polen zur Ukraine. Beginnend mit den konfliktreichen historischen Wurzeln in der Republik Polen-Litauen (1569-1795) bis hin zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022, untersucht die Arbeit, wie sich die polnisch-ukrainischen Beziehungen im Laufe der Zeit entwickelten. Durch eine interdisziplinäre Methodik, die Literatur und Geschichte vereint, sowie Oral History und Studien, war es mein Ziel,, ein ganzheitliches Bild der polnisch-ukrainischen Beziehungen zu zeichnen und insbesondere die polnische Perspektive auf diese komplexen Wechselbeziehungen zu beleuchten. Meine Forschung offenbarte eine dynamische Erinnerungskultur, die stark von den historischen Beziehungen beeinflusst ist, aber auch durch die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Insbesondere die solidarische Haltung Polens gegenüber der Ukraine seit dem russischen Angriffskrieg markiert einen Wendepunkt in der Wahrnehmung und bietet die Möglichkeit, das Tor der Freundschaft zu überschreiten.
Fragestellung
Meine Leitfrage ist „Wie stellen sich die polnisch-ukrainischen Beziehungen in Geschichte, Literatur und Erinnerungskultur dar?“. Während des Verfassens habe ich mir bestimmte Ziele gesetzt, um meine Leitfrage so gut wie möglich beantworten zu können: die Verhältnisse zwischen Polen und der Ukraine zwischen 1569 und 1945, die Beziehungen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und zuletzt der Einfluss dieser Beziehungen auf die Einstellung der Polen zu den Ukrainern und zu sich selbst.
Methodik
Die Methodik zum Beantworten meiner Leitfrage war vor allem die Kritische Diskursanalyse. Außerdem habe ich historische Sachbücher als Hauptinformationsquelle genutzt. Bezüglich der Prosa habe ich die zwei Werke „Mit Feuer und Schwert“ (Henryk Sienkiewicz) und „Das Hohe Schloss“ (Stanislaw Herman Lem) einbezogen. Des Weiteren habe ich mich auf Oral History gestützt sowie sekundäre Datensammlungen verarbeitet, wie Statistiken und Zeitungsartikel.
Ergebnisse
Während meiner Forschung habe ich folgende Ergebnisse herausgearbeitet: Drei Schlüsselkonflikte prägen meines Erachtens die Erinnerungskultur am meisten: die Kosakenaufstände (1648-1657), die Schlacht um Lemberg (1918) sowie das Massaker in Wolhynien (1943), hervorgegangen aus langjähriger Rivalität und Marginalisierung der Ukrainer. Limitierte Rechte in der Republik Polen-Litauen und nachfolgende Polonisierung nach der Schlacht von Lemberg verschärften die ethnischen Spannungen, kulminierend im Massaker von Wolhynien. In der Literatur wird jedoch vor allem ein positives Bild der Polen gezeichnet, während die Ukraine eher negativ dargestellt wird. Dies wird im Buch „Mit Feuer und Schwert“ deutlich. Auch in Lems „Das Hohe Schloss“ wird die idyllische Jugend des Autors durch pointierte Erwähnung der von den Ukrainern begangenen Aggressionen übertönt. Heutzutage werden die historischen Ereignisse zwischen den beiden Nationen häufig durch eine Brille der Emotionalität und Einseitigkeit betrachtet. Diese Darstellungen haben nicht nur zu einem glorifizierten Bild des polnischen Patriotismus beigetragen, sondern auch die Ukraine negativ charakterisiert und die Erinnerungskultur sowie die Beziehungen zwischen den beiden Völkern negativ beeinflusst. Heute kann man in der Gesellschaft eine starke Polarisierung feststellen, was die Haltung zu den ukrainischen Flüchtlingen angeht, aber trotz des historisch belasteten Verhältnisses ist Polen heute eine wichtige politische und militärische Stütze der Ukraine im Krieg gegen Russland.
Diskussion
Die Schwierigkeit der Thematik liegt in der sehr breiten Zeitspanne, die eine starke Eingrenzung erforderte. Zudem ist sehr wenig qualitativ hochwertige Prosa zu finden, was das interdisziplinäre Vorgehen herausfordernd gestaltete. Die Geschichte und Literatur schlussendlich zu vereinen, war ebenfalls anspruchsvoll, da diese auf gegensätzlichen Herangehensweisen basieren.
Schlussfolgerungen
In meiner Arbeit habe ich die polnisch-ukrainischen Beziehungen unter historischen, literarischen und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht und dabei zwei von drei Hauptfragen beantwortet: die Entwicklung dieser Beziehungen von 1569 bis 1945 und ihren Einfluss auf die gegenseitige Wahrnehmung. Die dritte Frage zu politischen Entwicklungen seit dem Ende der Sowjetunion blieb unbehandelt. Die Innovation meiner Arbeit liegt in der Verknüpfung von Geschichte, Literatur und Mentalitätsgeschichte.
Würdigung durch den Experten
PD Dr. Peter Collmer
Wie ist die aktuelle Solidarität Polens mit der Ukraine zu erklären? Annika Wegener legt sehr kompetent dar, wie sich die konfliktreichen polnisch-ukrainischen Beziehungen seit der Frühen Neuzeit entwickelten und wie man sich bis heute in Polen an die gemeinsame Geschichte erinnert. Geschickt analysiert die Autorin polnische Ukrainebilder anhand verschiedener Quellengattungen (Belletristik, Film, Umfragen, Oral History), die auf innovative Weise miteinander verknüpft werden. Polnische Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine werden so mehrschichtig erfasst und verständlich gemacht.
Prädikat:
sehr gut
Kollegium St. Michael, Fribourg
Lehrerin: Michelle Wüthrich