Physik | Technik
Sebastian Brovelli, 2001 | Luzern, LU
In meiner Arbeit simuliere ich das Schwingen von Glocken. Für die Glocke verwende ich ein bereits existierendes physikalisches Modell. Das Modell implementiere ich in der Programmiersprache Python und setze in dasselbige Daten ein, die ich aus eigenen Messungen an der Christus-Glocke der Philipp-Neri-Kirche in Reussbühl erhalten habe. Das System von Klöppel und Glocke hat Parallelen zum Doppelpendel, das ein bekanntes Beispiel in der Chaostheorie ist. Chaotisch heisst hierbei, dass eine kleine Änderung im Ausgangszustand eine grosse Änderung im zukünftigen Zustand bewirkt. Trotz ihrer Ähnlichkeit zum Doppelpendel verhält sich eine Glocke aber im Normalfall nicht chaotisch. Daher testen meine Simulationen, welche Modifikationen welche Änderungen des Schwingverhaltens bewirken und welche Eigenschaften eine chaotisch schwingende Glocke hat.
Fragestellung
(I) Ist es möglich, eine Glocke chaotisch schwingen zu lassen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? (II) Welche Gemeinsamkeiten hat eine chaotisch schwingende Glocke mit bekannten Ergebnissen aus der Chaostheorie?
Methodik
Das Modell der Glocke mit Differentialgleichungen sowie Stossgleichungen für den Schlag wurde aus der Literatur übernommen. Die Standardparameter der Glocke erhielt ich aus eigenen Messungen einer Glocke. Dazu mass ich die Geometrie der Glocke aus und zeichnete mit einem Ultraschallsensor die Schwingungen von Glocke und Klöppel für kleine Auslenkungen auf. Die Simulation programmierte ich in der Programmiersprache Python. Das Schwingverhalten einer gegebenen Glocke kann im Phasenraum dargestellt werden. Um zu testen, was bei gewissen Modifikationen passiert, wurde ein Kontrollparameter sukzessiv verändert und das resultierende Schwingverhalten berechnet. Für jeden Schlag wurde der Auslenkungswinkel des Klöppels gegen den Kontrollparameter aufgezeichnet. Aus diesen Diagrammen können qualitative Veränderungen des Verhaltens erkannt werden.
Ergebnisse
Für Standardwerte schwingt die Glocke periodisch mit zwei Schlägen pro Periode.
(I) Wird die Elastizität des Schlages erhöht, entsteht ab einer Elastizität von 86 Prozent ein neues, periodisches Verhalten mit sechs Schlägen statt zwei pro Periode. Das heisst, dass die Glocke auf jeder Seite dreimal schlägt. Bei noch höheren Werten entsteht in der Einschwingphase chaotisches Verhalten. Diese Phase dauert mit zunehmender Elastizität länger.
(II) Für den nächsten Versuch setzte ich den Schlag auf ideal elastisch und schaltete Antrieb und Reibung aus. Variiert wurde nun die anfängliche Auslenkung, das heisst die Gesamtenergie. Hierbei wechselt sich je nach Gesamtenergie chaotisches und periodisches Verhalten ab, wobei der Übergang zu chaotischem Verhalten über die Periodenverdopplung erfolgt.
(III) Die Wahl der Drehachse hat einen Einfluss darauf, wo der Klöppel auf die Glocke schlägt. Für eine hohe Drehachse schlägt der Klöppel auf der höheren Seite, für eine tiefere Drehachse auf der tieferen. Für einen kleinen Übergangsbereich passiert sogar beides, sodass der Klöppel pro Periode viermal auf die Glocke schlägt.
(IV) Wird die Klöppelmasse erhöht, führt das dazu, dass der Klöppel mit geringerer Geschwindigkeit aufschlägt. Ab einer unrealistischen Masse von 3000 Kilogramm (Standardwert: 160 kg) schlägt die Glocke nur noch einseitig. Chaotisches Verhalten entsteht nicht.
(V) Ersetzt man den Antrieb durch einen zeitlich periodischen Antrieb, entsteht je nach Antriebskraft und Periodendauer periodisches, quasiperiodisches oder chaotisches Verhalten.
Diskussion
(I) Bei einer hohen Elastizität prallt der Klöppel stärker ab, daher der Dreifachschlag und das chaotische Verhalten. Der Übergang zum Chaos kann mit dem Phänomen der Intermittenz, beziehungsweise dem Pomeau-Manneville-Übergang verglichen werden, bei dem die chaotischen Phasen immer länger werden.
(II) Das Ergebnis gleicht dem Feigenbaumszenario, in dem sich chaotisches und periodisches Verhalten abwechselt und der Übergang jeweils über Periodenverdopplung erfolgt.
(III) Alle Fälle bilden das Verhalten echter Glocken ab.
(IV) Durch die Trägheit des Klöppels kann er nicht richtig in Schwung gebracht werden.
(V) Ein periodisch getriebenes Pendel ist ein bekanntes chaotisches System. Hier entsteht das chaotische Verhalten durch die Wechselwirkung zwischen Motor und Glocke. Es hat weniger mit dem Glocke-Klöppel-System zu tun.
Schlussfolgerungen
Je nach Modifikation können verschiedene chaotische und nichtchaotische Verhaltensweisen simuliert werden. Eine Glocke verhält sich nur in unrealistischen Extremfällen chaotisch. Für den Übergang von nichtchaotischem zu chaotischem Verhalten wurden zwei verschiedene aus der Chaostheorie bekannte Fälle erkannt.
Würdigung durch den Experten
Prof. Dr. Rudolf Füchslin
Herr Brovelli gelingt es in seiner Arbeit, Theorie und Praxis in beeindruckender Art und Weise in Verbindung zu bringen. In seiner Arbeit untersucht er das dynamische Verhalten einer realen, von ihm ausgemessenen Glocke. Herr Brovelli analysiert den Glockenschlag indem er die gegenseitige Bewegung von Glocke und Klöppel als Doppelpendel betrachtet. Er setzt den klassischen Lagrange – Formalismus ein, um eine numerische Simulation dieses Systems zu erhalten und beschreibt dessen Verhalten in der modernen Sprache der dynamischen Systeme und der Chaostheorie.
Prädikat:
sehr gut
Kantonsschule Reussbühl
Lehrer: Jörg Donth