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Anna Rüthemann, 2002 | Stadel, ZH

 

1968 war ein Jahr der Revolutionen. Weltweit demonstrierten Hunderttausende junge Studierende gegen den Vietnamkrieg, die veralteten Strukturen in der Bildung sowie der Gesellschaft und für eine freie Sexualität. Das Private wurde politisch. Keine andere Bewegung in der Geschichte wollte die Gesellschaft so radikal verändern, wie es die 68er taten. Und dennoch wurde dabei anscheinend ein wichtiger Teil der Gesellschaft vergessen: Die Stimmen der Studentenbewegung waren alle männlich. Weibliche Genossinnen wurden in die Geschlechterrollen der 1960er-Jahre zurückgedrängt und innerhalb der Bewegung nicht gehört. In einem selbstproduzierten Dokumentarfilm wird ebendiesen Frauen eine Stimme gegeben. Drei Zeitzeuginnen berichten vom Traum, die Welt verändern zu können, der Ernüchterung und dem Frust als weibliche Genossin im westdeutschen Studentenbund SDS und der darauffolgenden Entstehung der Neuen Frauenbewegung. Diese Arbeit zeigt, aufbauend auf den Aussagen der Zeitzeuginnen und in Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur, auf, inwiefern die 68er-Bewegung als Katalysator für die Neue Frauenbewegung zu verstehen ist, und verfolgt dabei das Ziel, die Revolte, die den meisten als sexuelle Revolution in Erinnerung blieb, aus einer ganz anderen, weiblichen Perspektive zu beleuchten.

Fragestellung

Neben der ursprünglichen Frage, wie es sein konnte, dass in einer Bewegung, die sich selbst Progressivität auf die Fahne schrieb, weibliche Beteiligte in den Hintergrund rückten, untersucht diese Arbeit in erster Linie das Verhältnis zwischen der 68er-Bewegung und der Neuen Frauenbewegung in Westdeutschland. Im Grossen und Ganzen verfolgt sie das Ziel, die historischen Ereignisse der späten 60er- und frühen 70er-Jahre aus einer weiblichen Perspektive aufzuarbeiten.

Methodik

Die Arbeit baut wie der Dokumentarfilm auf dem Zusammenspiel aus einer vertieften Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur und den verfilmten Erzählungen dreier Zeitzeuginnen auf. Dies sind namentlich Cristina Perincioli, feministische Filmemacherin und Aktivistin der Neuen Frauen- und Lesbenbewegung in Berlin, Marie Luise Hiesinger, Beteiligte der 68er- und der Neuen Frauenbewegung in Heidelberg und Gunda Göller, Zeitzeugin aus Tübingen. Für die Bearbeitung des Dokumentarfilms wurde das Schnittprogramm Adobe Premiere Pro genutzt und zusätzlich zu den Interviewaufnahmen öffentlich zugängliches Bild- und Tonmaterial verwendet. Die schriftliche Begleitarbeit dient als theoretische Grundlage der historischen Begebenheiten und vergleicht die Erfahrungen der Zeitzeuginnen mit den Erkenntnissen aus der Recherche.

Ergebnisse

Der entstandene 40-minütige Dokumentarfilm erzählt von den persönlichen Erfahrungen dreier Zeitzeuginnen, sowohl in der 68er- als auch in der Neuen Frauenbewegung. Durch diese Einblicke wird zum einen klar, dass die grösste Organisation der deutschen 68er-Bewegung innerhalb ihres eigenen Bundes, zumindest was die Geschlechterverhältnisse anbelangt, genau diejenigen Strukturen widerspiegelte, die sie an der Gesellschaft kritisierte. Zum anderen wird aber auch die These, die Neue Frauenbewegung sei durch, oder gar mit der 68er-Bewegung entstanden, widerlegt. Vielmehr handelte es sich bei der Studentenbewegung um eine Art Katalysator, die der Frauenbewegung zwar durch seine gesellschaftskritischen Diskussionen den Weg ebnete, vor allem aber bei den weiblichen Genossinnen eher die nötige Wut auslöste, um eigene Gruppierungen zu bilden, als ihnen tatsächlich den Raum zu geben, sich innerhalb der Bewegung emanzipieren zu können.

Diskussion

Auch wenn die von den Zeitzeug:innen getätigte Aussagen aufgrund ihrer unvermeidbaren Subjektivität immer mit etwas Vorsicht genossen werden müssen, stellte sich Oral History als die bestgeeignete Methode für diese Arbeit heraus. Dies nicht nur, weil es kaum Quellen oder Sekundärliteratur zu den Frauen der 68er-Bewegung gibt, sondern auch, weil die mündlich übertragene Geschichte eine ganz andere Perspektive auf historische Ereignisse ermöglicht als sie in der konventionellen Geschichtsschreibung üblich ist.

Schlussfolgerungen

Es ist kaum möglich, die Geschichte in ihrer ganzen Vielfältigkeit in einem 40-minütigen Film darzustellen. Vielmehr handelt es sich bei dieser Dokumentation um Geschichten und Erzählungen einzelner Beteiligten, die zwar nicht unbedingt die ganze, objektive Wahrheit der Tatsachen abbilden, sich aber dennoch mit historisch belegbaren Geschehnissen decken. Für eine breitere Abbildung der Ereignisse hätte ich deutlich mehr, und wenn möglich auch diversere Zeitzeug:innen gebraucht. Jedoch war dies von Beginn an nicht unbedingt das Ziel dieser Arbeit.

 

 

Würdigung durch die Expertin

Dr. Ursula Ganz-Blättler

Die historiografische Arbeit befasst sich mit dem gegenseitigen Verhältnis der deutschen 68er-Bewegung und Frauenbewegung der APO-Zeit und zeichnet ein lebendiges und differenziertes Bild jener Zeitepoche. Der klug gesetzte inhaltliche Fokus liegt auf den bis heute nachwirkenden Spannungsfeldern der damaligen Auseinandersetzungen sowie dem sorgsamen Umgang mit den in Bild und Ton festgehaltenen Aussagen von Zeitzeuginnen.
Komplexe Sachverhalte werden so – durch die Verknüpfung mit individuell nachvollziehbaren persönlichen Problem- und Motivlagen – anschaulich dargestellt.

Prädikat:

sehr gut

Sonderpreis des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF)

 

 

 

Kantonsschule Zürcher Unterland, Bülach
Lehrerin: Marion Baumann