Mathematik | Informatik

Lino Hofstetter, 2001 | Lenzburg, AG

 

Die ungleiche Verteilung natürlicher und finanzieller Ressourcen ist eines der grössten gesellschaftlichen Probleme. So besitzt das reichste Prozent der Schweizer Bevölkerung über 40 Prozent des gesamten Vermögens, während mehr als der Hälfte aller Schweizer*innen weniger als 50 000 Franken gehören. Was vielen als unvermeidbare Konsequenz des Kapitalismus erscheint, könnte auch andere Ursachen haben: falsche mathematische Modelle, mit denen Vermögensentwicklungen prognostiziert und auf deren Grundlage Entscheide in Politik und Wirtschaft getroffen werden. Deshalb befasste ich mich in meiner Arbeit mit der Frage, wie finanzielle Ungleichheit entsteht und wie dieses Problem aus mathematischer Perspektive gelöst werden kann. Es zeigte sich, dass stochastische Prozesse, die die Vermögensentwicklung von Individuen beschreiben, zwingend zu Ungleichheit führen. Wird hingegen kooperiert und ein Teil der finanziellen Ressourcen regelmässig geteilt, verringert sich die Ungleichheit aufgrund kleinerer Schwankungen in der Vermögensentwicklung auch langfristig. Mit einem Modell für die Vermögensverteilung in der Schweiz konnte ich schliesslich aufzeigen, wie eine graduelle Erhöhung der Kooperation zum finanziellen Wohle aller beitragen würde.

Fragestellung

Vermögensentwicklungen und -verteilungen werden in der Mathematik als stochastische Prozesse beschrieben. Ich habe mich deshalb damit auseinandergesetzt, (I) wie zufällige Prozesse zu unterschiedlichen Vermögen von Individuen bzw. von Populationen führen, (II) wie finanzielle Kooperation die Ungleichheit langfristig verringern kann und (III) ob mit stochastischen Modellen die Vermögensentwicklung in der Schweiz in der Vergangenheit und in verschiedenen Kooperationsszenarien für die Zukunft beschrieben werden kann.

Methodik

Im theoretischen Teil meiner Arbeit habe ich stochastische Prozesse am Beispiel eines einfachen Glücksspiels analysiert, um dadurch allgemeine Einsichten über die Entwicklung von Individualvermögen und die Notwendigkeit der Kooperation abzuleiten. Simulationen von Vermögensentwicklungen habe ich mittels stochastischer Differentialgleichungen in einem Modell in der Programmiersprache R umgesetzt. Aus historischen Daten zur Vermögensverteilung in der Schweiz bis 2016 und dem Verlauf des Schweizerischen Aktienindex (SMI) habe ich Modellparameter für die Schweiz berechnet und mein Modell überprüft. Auf dieser Grundlage habe ich fünf Szenarien für die Bekämpfung der finanziellen Ungleichheit in der Schweiz entwickelt.

Ergebnisse

In Populationen, deren Individualvermögen multiplikativen stochastischen Prozessen folgen, divergieren alle Individualvermögen exponentiell. Die finanzielle Ungleichheit in solchen Populationen wächst deshalb unter allen Bedingungen. Nur durch Kooperation kann die finanzielle Ungleichheit verkleinert werden. Sie führt dank der Verringerung von Fluktuationen in stochastischen Entwicklungen zu einem langfristig verbesserten Wohlstand für alle. Aus der Simulation historischer Daten ging hervor, dass von 1991 bis 2016 nur drei Prozent des Vermögens in der Schweiz umverteilt wurde. Von den fünf untersuchten Kooperationsszenarien scheint vor allem eines realisierbar. Dieses sieht eine graduelle Erhöhung der Kooperation über drei Jahrzehnte auf einen Anteil von 15 Prozent vor.

Diskussion

Stochastische Prozesse werden in der Finanzmathematik schon lange erfolgreich zur Simulation von Vermögensentwicklungen eingesetzt. Glaubt man solchen Modellen, muss man davon ausgehen, dass die finanzielle Ungleichheit unter sonst gleichbleibenden Bedingungen stetig wächst. Kooperation erscheint also unumgänglich, wenn die finanzielle Ungleichheit verringert und eine gleichmässigere Entwicklung aller Vermögen angestrebt werden soll. Schon ein einfaches Modell für die theoretische Vermögensentwicklung in der Schweiz zeigt, unter welchen Bedingungen dies zu erreichen wäre.

Schlussfolgerungen

Um das Problem der ungleichen Verteilung finanzieller Ressourcen zu bekämpfen, besteht aus finanzmathematischer Sicht Handlungsbedarf. Stochastische Modelle zu Vermögensentwicklungen, die auch Kooperation berücksichtigen, sollten, ausgehend von aktuellen Vermögenserhebungen, zum Beispiel Steuerdaten, weiterentwickelt werden. So könnten in Zukunft finanzpolitische und wirtschaftliche Entscheide zur Bekämpfung der finanziellen Ungleichheit an geeigneteren Modellen getestet werden. Damit könnte zur Lösung eines dringenden gesellschaftlichen Problems beigetragen werden.

 

 

Würdigung durch den Experten

Dr. Richard Bödi

Lino Hofstetter ist es gelungen, ein aktuelles komplexes Thema sehr gründlich und mathematisch fundiert darzustellen und die Ergebnisse in einfach verständlicher Sprache zu formulieren. Die Darstellungen in seiner Arbeit und die Simulationsergebnisse beinhalten originäre Resultate und Einsichten, die in der Literatur so nicht zu finden sind. Lino Hofstetter zeigt eindrücklich, dass er sich schnell in komplexe Sachverhalte einarbeiten, diese via Computer-Programme praktisch umsetzen und auf die konkrete Fragestellunge einer mathematischen Simulation der Vermögensentwicklungen in der Schweiz anwenden kann.

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Alte Kantonsschule Aarau
Lehrer: Martin Eisenmann