Physik | Technik
Davide Farassino, 2005 | Flims, GR
Chaotische Systeme wie das Doppelpendel gelten aufgrund ihrer hochkomplexen Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen als praktisch unvorhersagbar. Die chaotische Eigenschaft manifestiert sich jedoch erst nach einer gewissen Zeit, während der das System in der Praxis vorhersagbar ist. Diese Zeitspanne wird als Predictability Time Horizon (PTH) bezeichnet und ist beispielsweise bei Wettervorhersagen von grosser Relevanz. Es wurde eine Methode entwickelt, um den PTH in Abhängigkeit von den Anfangswinkeln abzuschätzen. Diese Methode wurde genutzt, um beliebigen Winkelpaaren als Funktion ihres PTH eine Farbe zuzuordnen, mit der die entsprechenden Punkte im Parameterraum eingefärbt wurden. Anschließend wurde versucht, mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes den PTH für frei wählbare Anfangswinkel vorherzusagen. Wie ein visueller Vergleich zwischen Vorhersagen und Realität zeigte, kann ein neuronales Netz ein recht zuverlässiges Prognosemodell für chaotische Systeme sein.
Fragestellung
Inwiefern ist es für ein künstliches neuronales Netz möglich, den Predictability Time Horizon eines Doppelpendels vorherzusagen?
Methodik
Zur Schätzung des PTH wurden die mit dem Lagrange-Formalismus hergeleiteten Differentialgleichungen mit einem in Scilab implementierten Mehrschrittverfahren nach Adams-Bashfort für nahe beieinanderliegende Anfangsbedingungen gelöst. Ein mithilfe der Python Bibliotheken Sklearn und Tensorflow erstelltes künstliches neuronales Netz wurde mit den gesammelten Daten dazu trainiert, den PTH vorherzusagen. Die Simulationsresultate und Vorhersagen des Prognosemodells wurden durch Farbcodierung der Abhängigkeit des PTH von den Anfangsbedingungen visualisiert.
Ergebnisse
Durch das Einfärben des Parameterraums in Abhängigkeit von der Instabilität der Winkelpaare konnte ein punktsymmetrischer, stabiler Bereich identifiziert werden, der an die Mandelbrot-Menge erinnert. Das künstliche neuronale Netz konnte 96.6% der untersuchten Winkelpaare korrekt als chaotisch oder nicht chaotisch identifizieren. Der Determinationskoeffizient des Modells betrug 93.5%, und der mittlere absolute Fehler einer Vorhersage 1.79 Sekunden. Das Modell zeigte Schwächen bei der Vorhersage des PTH von Winkelpaaren im Grenzbereich zwischen Stabilität und Instabilität sowie bei der Erkennung von stabilen Inseln.
Diskussion
Das neuronale Netz erzielte gute Ergebnisse bei der Bestimmung der chaotischen Eigenschaft von Anfangswinkelpaaren. Es wurde auf intuitive Weise verdeutlicht, dass eine künstliche Intelligenz mit wenig Trainingsaufwand recht zuverlässige Vorhersagen treffen kann. Bei der Beurteilung von Winkelpaaren, die Teil einer stabilen Insel oder des Grenzbereichs zwischen Stabilität und Instabilität sind, liefert das Modell jedoch oft ungenaue Vorhersagen. Die Methode zur Bestimmung des Predictability Time Horizon könnte verbessert werden, indem der Beobachtungszeitraum auf mehr als 30 Sekunden erhöht wird, wodurch vermutlich einige stabile Inseln verschwinden würden.
Schlussfolgerungen
Da das verwendete neuronale Netz aus verhältnismässig wenigen Schichten und Neuronen besteht, sind die Ergebnisse durchaus vielversprechend. Mit einem grösseren und leistungsfähigeren Modell, sowie durch die Verwendung von weiteren Input-Parametern wie z.B. dem Ljapunow-Exponent, könnte die Genauigkeit vermutlich erhöht werden. Es wurde gezeigt, dass neuronale Netze interessante Prognosemodelle für chaotische Systeme sein können. Um jedoch zu überprüfen, ob ein solches Modell auch auf komplexere Systeme wie das Wetter anwendbar ist, müsste man untersuchen, wie stark die Genauigkeit des Modells bei zusätzlichen Freiheitsgraden abnimmt.
Würdigung durch den Experten
Prof. Dr. Andreas Müller
Nicht alle Anfangsparameter eines chaotischen Systems führen im gleichen Mass zu chaotischem Verhalten. Aussagen über die zu erwartende Vorhersagequalität werden zum Beispiel von Benutzern numerischer Wetterprognosen bereits heute erwartet. Die Arbeit von Davide Farassino zeigt am Beispiel des Doppelpendels, dass bereits ein kleines neuronales Netz recht genaue Aussagen über den Vorhersagehorizont in Abhängigkeit von den Anfangswerten machen kann, die sich auch überzeugend visualisieren lassen. Darüber hinaus formuliert sie interessante Ansätze zur weiteren Verbesserung der Resultate.
Prädikat:
hervorragend
Sonderpreis «Stockholm International Youth Science Seminar (SIYSS)» gestiftet von der Metrohm Stiftung
Bündner Kantonsschule, Chur
Lehrer: Urs Müller