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Malik Becker, 1998 | Basel, BS

 

Édouard Louis’ Debütroman «Das Ende von Eddy» ist politisch hoch aktuell. Der Schauplatz ist Hallencourt in der Picardie, einer der wirtschaftlich schwachen Regionen Frankreichs, für die der rechtspopulistische Rassemblement National und die Gelbwestenbewegung das mediale Interesse weckten. Eddy Bellegueule, die Hauptfigur, wächst in prekären Verhältnissen auf und wird als Schwuler gebrandmarkt. Eddys Umfeld stellen die Medien in der Rezeption des Romans teils als homophobe und rückständige Arbeiterklasse dar. Differenzierter wird die Diskriminierung von Eddy in meiner Matura-Arbeit nach der Stigma-Theorie von Erving Goffman als Stigmatisierung verstanden. Gestützt auf Goffmans Theorie, zeigt sich, dass Eddy bereits in der frühen Kindheit, bevor er sich seiner sexuellen Orientierung bewusst ist, in beinahe allen Situationen des Alltags von Stigmatisierung betroffen ist. Eddys Gangart, Gestik und Stimme wirken in Hallencourt diskreditierend. Der Gewalt, der Eddy ausgesetzt ist, liegen systemische Missstände zugrunde, die in den Alltag der Protagonisten hineinreichen und sich in den starren Vorstellungen von Geschlechterrollen manifestieren.

Fragestellung

Um zu einer nuancierten Darstellung zu gelangen, interpretiere ich die Diskriminierung der Romanfigur Eddy als Stigmatisierung. In der Einleitung zeige ich, inwiefern die Stigma-Theorie des Soziologen Erving Goffman eine nützliche Interpretationsgrundlage bietet. In meiner Romanalyse gehe ich folgenden Leitfragen nach: (I) Wie gerät Eddy in die Rolle des Stigmatisierten? (II) Wie geht dieser mit der Stigmatisierung um? (III) Wie entkommt er der Stigmatisierung?

Methodik

Zentral bei dieser Arbeit ist Goffmans Stigma-Theorie. Stigmatisierung entsteht laut Goffman in einer alltäglichen sozialen Interaktion, nicht in einer krisenhaften Ausnahmesituation, wie sie etwa in René Girards Sündenbocktheorie Voraussetzung für die Verfolgung eines von einer grossen Menge ausgewählten Opfers ist. Anders als der von George Weinberg geprägte Begriff Homophobie, der bei den Tätern eine irrationale Angst ausmacht, bezieht die Stigma-Theorie das Opfer in den Prozess der Diskriminierung mit ein. Dem Stigmatisierten wird eine Rolle zugesprochen, die er in einer anderen Situation ablegen kann. Eddy vollzieht mit dem Umzug in die Stadt selbst einen Rollenwechsel. Eigenschaften, die in Hallencourt stigmatisierend wirken, verlieren dort ihre diskreditierende Wirkung; dafür wird nun sein familiärer Hintergrund zum Makel. In der Rezeption des Romans in den Medien wird seine politische Dimension deutlich. In einem Teil der Arbeit lege ich den Fokus, gestützt auf medien- und literaturwissenschaftliche Arbeiten, auf die Darstellung der Dorfbewohner.

Ergebnisse

In den Medien wurde von den Bewohnern von Hallencourt vielfach das Bild einer durchwegs homophoben und rückständigen Arbeiterklasse gezeichnet und damit die Gruppe mit der geringsten sozialen, politischen und wirtschaftliche Macht für die Diskriminierung einer anderen Minderheit verantwortlich gemacht. Präziser betrachtet, und mit Blick auf Goffmans Theorie, wächst die Romanfigur Eddy Bellegueule in einem Umfeld auf, das Homosexualität als korrigierbar versteht, und von ihm die Anpassung an eine starre Definition von Männlichkeit fordert. In dieser Welt, in der Eddy in jungen Jahren durch Spott und Gewalt erfährt, dass er den Normen der Gesellschaft widerspricht, gibt es für ihn praktisch keine Rückzugsorte. Die Flucht aus dem Dorf an das Gymnasium in der Stadt ist, nach gescheiterten Anpassungsversuchen, für die sich Eddy in ein Konstrukt aus Lügen verstrickt, die letzte Möglichkeit, der ständig präsenten und zerstörerischen Rolle des Stigmatisierten zu entkommen.

Diskussion

Rückblickend würde die Arbeit mit dem französischen Originaltext die Überzeugungskraft des Analyseteils stärken.

Schlussfolgerungen

Die Stigma-Theorie von Goffman ist der geeignete Zugang, um die alltägliche Diskriminierung der Romanfigur Eddy offenzulegen, ohne sie als spezifisches Phänomen der Arbeiterklasse zu verstehen. Zugleich erweist sich Stigmatisierung mithilfe dieser Theorie als Prozess, der nicht in den Eigenschaften der Stigmatisierenden oder des Stigmatisierten begründet liegt, sondern durch eine spezifische zwischenmenschliche Konstellation zustande kommt. Die Diskriminierungsformen, die im Roman auftreten und die in den Medien durch die Bezichtigung der Arbeiterklasse fortgeführt werden, zeigt die Arbeit als systemisch bedingt. Den Roman verstehe ich nicht als Verurteilung der Bewohner von Hallencourt, sondern als Anklage politischer Missstände.

 

 

Würdigung durch die Expertin

M.A. Anna Pevoski

Malik Beckers Arbeit zeugt von der intensiven Auseinandersetzung mit einer Thematik von hoher soziopolitischer Relevanz: der Perspektivierung der Diskriminierung von Schwulen im zeitgenössischen Roman. Sie fusst in einer breit angelegten Quellenlektüre, und wählt zugleich einen klaren Fokus. É. Louis’ Erstlingsroman wird zunächst im Spiegel seiner medialen Rezeption diskutiert, und daraufhin im Licht des Stigma-Konzepts Goffmans analysiert. Dabei wird dieser soziologische Ansatz, auf den der Roman selbst intertextuell verweist, in Bezug auf sein Potenzial als Interpretationsraster ausgelotet.

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Gymnasium Leonhard, Basel
Lehrerin: Jacqueline Eckert