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Roman Gauck, 2003 | Binningen, BL

 

Moralisch verwerfliche Verleitung zum Selbst-Mord oder fortschrittliche Hilfe bei der Ausführung des Selbstbestimmungsrechts? Die Meinungen zum assistierten Suizid in der Schweiz gehen weit auseinander. Seit dem Beginn der organisierten Freitodbegleitung Mitte der 1980er Jahre hat sich hierzulande eine vielschichtige Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der Suizidhilfe entwickelt. Meilensteine wie wichtige Abstimmungen widerspiegeln die Sichtweise der Schweizer Bevölkerung und rücken einzelne Teilaspekte, etwa die Suizidhilfe in Heimen, in den Fokus. Themen dieser Arbeit sind die gesellschaftlichen Debatten über Suizidhilfe, ihre Entwicklung sowie die Positionen wichtiger Akteur*innen und deren Rollen. Als Informationsquellen dienen geschichtliche Quellen und Interviews mit Sachverständigen. Das Ergebnis ist eine umfassende Analyse der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Aspekte der laufenden Suizidhilfe-Debatte in der Schweiz.

Fragestellung

Wie haben sich mit Blick auf vergangene und aktuelle Entwicklungen in der Schweiz die Sichtweisen und Meinungen der Gesellschaft auf den begleiteten Suizid im Lauf der Zeit verändert und warum?

Methodik

Als geschichtswissenschaftliche Arbeit beruht die Arbeit primär auf Literaturrecherche in Quellen, die sich mit der Geschichte der gesellschaftlichen Suizidhilfe-Debatte beschäftigen. Dies sind Bücher, Artikel, Statistiken und Umfrage- sowie Abstimmungsergebnisse, welche kontextualisiert und zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Weitere wichtige Quellen sind Interviews mit Vertreter*innen aus Wissenschaft, Kirche und Suizidhilfeorganisationen, die die Debatte und deren Entwicklung aus ihrer Sicht beschreiben. Als Ergänzung dienen schriftliche Anfragen an die wichtigen Akteur*innen der Szene.

Ergebnisse

Das wichtigste Ergebnis der Arbeit ist die Feststellung einer sehr hohen Zustimmung zur organisierten Suizidhilfe in der Schweizer Bevölkerung von bis zu 80 Prozent, welche seit Jahren äusserst konstant ist. Dies wurde immer wieder durch Umfrage- und Abstimmungsergebnisse neu nachgewiesen. Das System der organisierten Suizidhilfe hat sich mittlerweile etabliert. Allerdings ist die Zustimmung je nach konkretem Fallbeispiel unterschiedlich hoch, es gibt auch Szenarien, bei denen die Ablehnung grösser ist, etwa bei Suizidhilfe in der eigenen Nachbarschaft. Mit überdurchschnittlicher Ablehnung der Suizidhilfe reagieren religiöse Personen. Die grossen Landeskirchen, vor allem die katholische, sind heute die wichtigsten Kritiker*innen der Suizidhilfe. Sie stellen das Selbstbestimmungsrecht am stärksten in Frage, welches für weite Teile der Bevölkerung und für die Suizidhilfeorganisationen das zentrale Argument für die Suizidhilfe ist.

Diskussion

In der Arbeit wird ein detailliertes Gesamtbild der wichtigen Ereignisse, Entwicklungsphasen, Akteur*innen und Argumente der Schweizer Suizidhilfe-Diskussion gezeichnet, welches eine umfangreiche Kontextualisierung und Interpretation beinhaltet. Durch die umfassende Recherche sind die Ergebnisse breit abgestützt: Die angewandten Methoden erfassen in der Kombination von Literaturrecherche und Interviews die Thematik differenziert und vielschichtig. Jedoch bietet die Arbeit kein quantitativ repräsentatives Ergebnis. Mehr Aufmerksamkeit hätten auch aktuelle Vorkommnisse verdient, welche die Diskussion möglicherweise signifikant beeinflussen, so etwa die Covid-Pandemie. Hierzu sind bislang noch nicht verfügbare verlässliche Daten wünschenswert.

Schlussfolgerungen

Generell ist die Arbeit als Beitrag zur Suizidhilfe-Debatte aktuell ausserordentlich relevant, da aufgrund des demografischen Wandels und einem zunehmenden Bevölkerungsanteil älterer Personen das Thema Suizidhilfe immer wichtiger werden wird. Dadurch werden sich entsprechende gesellschaftspolitische Diskussionen intensivieren. Die in der Arbeit gezeigte hohe Zustimmung zur Suizidhilfe ist eine wichtige Information, die die Debatte verändern kann. Die Diskussion könnte so effektiver geführt werden und sich auf die umstrittenen Teilaspekte fokussieren. Angesichts der breiten Zustimmung werden scheinbar radikale Vorschläge wie zum Beispiel eine Vorgabe für Heime, Suizidhilfe zuzulassen, nachvollziehbar. Auch setzen sich aktuell viele andere Länder mit neuen Suizidhilfe-Regelungen auseinander, wobei sich diese an der Schweiz und ihrer Debatte orientieren könnten. Mit dem Wissen aus dieser Arbeit können Diskussionen zukünftig wissenschaftlicher und lösungsorientierter geführt werden.

 

 

Würdigung durch den Experten

Dr. Michael Fahlbusch

Mit der Darstellung über ein verdrängtes gesellschaftliches Anliegen betritt Herr Gauck Neuland. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen zeichnet er die Ursprünge und gesellschaftlichen Debatten der Suizidhilfe in der Schweiz vor 40 Jahren nach. Er stellt Positionen sowohl von Befürwortern als auch Gegnern in der Schweiz vor, indem selbst bei Gegnern nunmehr ein Bewusstseinswandel eingesetzt hat: Dass der Tod auch zu einem selbstbestimmten Leben dazu gehöre, ist heute in der Schweiz eine unbestrittene Überzeugung. Der Verfasser rekonstruiert luzid die Akteure und Organisationen.

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Gymnasium Oberwil
Lehrer: Christoph Maier