Literatur | Philosophie | Sprache
Timothy Richard Schmid, 2001 | Gerlikon, TG
Die „Richtung der Dichtung“ ist eine dreiteilige Lyrikkonstellation, die einen theoretischen, praktischen und performativen Teil umfasst. Sie untersucht, wie Inhalt und Form durch verschiedene Arten von Selbstbezüglichkeit miteinander verbunden sind. Ein rund 60 Seiten langes Lyriklexikon behandelt die Themen „Reim“, „Vers“ und „Metrik“ als grundlegende Elemente der deutschen Lyrik und erklärt sie in gebundener Sprache durch Selbstreferenz: Die männliche Kadenz wird durch die männliche Kadenz erklärt, der Kreuzreim als Kreuzreim, der Jambus jambisch usw. Begleitend zur Lyrik folgt eine Schrift, welche die theoretischen Überlegungen darstellt und neue Arten der Selbstreferenz im Kontext der digitalen Poesie des 20. und 21. Jahrhunderts aufzeigt. Zusätzlich werden maschinelle Verfahren entwickelt, um die Programmierbarkeit der Lyrik zu evaluieren. Ein Prozessbeschrieb zur automatischen Überprüfung von Gedichten unter Berücksichtigung einer Taktvorgabe sowie eine eigens programmierte Applikation zur Durchführung interaktiver Experimente mit generativer künstlicher Intelligenz runden das Projekt ab.
Fragestellung
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit betrifft die Technik, Form und Inhalt durch Selbstreferenz miteinander zu verbinden und die Entwicklung der Ausdrucksweise über die letzten vier Jahrhunderte hinweg zu untersuchen. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, ob die Analyse selbst ebenfalls selbstreferenziell gestaltet werden kann, wenn sie diese Thematik behandelt. Zudem wird untersucht, ob mithilfe eines Reduktionskalküls elementare Bestandteile identifiziert werden können, die je nach Jahrhundert variieren, und ob es Aspekte gibt, die sich „durch die Jahrhunderte hindurch“ bewahren lassen.
Methodik
Je nach Zeitepoche kommen unterschiedliche Vorgehensweisen zum Einsatz: Die Lyriktradition des 18. und 19. Jahrhunderts wird durch ein performatives Lyriklexikon selbstreferenziert, welches sich auf diese spezifische Tradition konzentriert. Im 20. Jahrhundert erfolgt eine historische Analyse der Entwicklung und der Meilensteine der digitalen und der Code-Poesie. Das 21. Jahrhundert wird praktisch bearbeitet, indem eigene maschinelle Verfahren entwickelt und Applikationen programmiert werden, um über eine Schnittstelle mit grossen Sprachmodellen (LLMs – „Large Language Models“) zu interagieren.
Ergebnisse
Das gebundene Werk im Geiste der Lyriktradition des 18. und 19. Jahrhunderts wurde konsequent umgesetzt, ohne die formalen Grenzen der Tradition zu überschreiten. Die Untersuchungen zur digitalen Poesie und Code-Poesie zeigen, dass auch eng gefasste Lyrikkonzeptionen im 20. und 21. Jahrhundert relevant bleiben, ohne dabei starr oder veraltet zu wirken. Die Verwendung generativer künstlicher Intelligenz in der Textverarbeitung trägt zur Weiterentwicklung des Lyrikbegriffs bei, wie durch eigene Hilfsprogramme demonstriert wird, die in der Lage sind, Gedichte automatisch zu vervollständigen oder zu erzeugen.
Diskussion
Durch die Kombination der drei sehr unterschiedlichen Ansätze – theoretisch, praktisch und performativ – ist die Arbeit insgesamt gut abgerundet. Der praktische Teil hingegen stellt aufgrund des Einbezugs der künstlichen Intelligenz eine Momentaufnahme eines hochaktuellen Prozesses dar, an dem gesamtgesellschaftlich aktiv weitergearbeitet wird. Es ist gut vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit völlig neue Möglichkeiten ergeben.
Schlussfolgerungen
Die grundlegenden Elemente „Reim“, „Vers“ und „Metrik“ bleiben auch in der heutigen Zeit relevant, wenn auch in veränderter Form: Programme zur Analyse oder Verarbeitung von Gedichten müssen diese Konzepte beherrschen, um korrekte Ergebnisse zu liefern oder Transformationen zuverlässig durchführen zu können. Aktuell ist dies im Bereich der KI-gestützten Textverarbeitung noch nicht in ausreichendem Masse gewährleistet – zwar sind korrekte Ausgaben möglich, doch eine hohe Zuverlässigkeit kann noch nicht garantiert werden. Damit ist auch der Beweis erbracht, dass die Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz nicht ausgereicht hätten, um das performative Lexikon maschinell zu verfassen.
Würdigung durch den Experten
Prof. Dr. Ralf Simon
Timothy Schmid erörtert engste, autologische Formationen von Selbstreferenz. Die Frage, ob Lyrik programmierbar ist, wird in beeindruckender Komplexität entfaltet: in analoger Verspoetik, als deskriptiv exponierte Digitalpoesie, als generative Poesieprogrammierung. Entscheidend ist die grundlegende Ironie, die sich in der Konstellation der Arbeit zeigt. Die drei Zugangsweisen ergänzen sich, während sie sich gleichzeitig unterwandern und in Frage stellen. Es geht hier um Komplexität angesichts des drängenden Problems, ob sprachliche Kreativität digital erzeugt werden kann.
Prädikat:
hervorragend
Sonderpreis für junge Linguisten und Linguistinnen, gestiftet von der Schweizerischen Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft (SSG/SSL)
Bildungszentrum für Technik Frauenfeld
Lehrerin: Jeanine Ripoll