Geschichte | Geographie | Wirtschaft | Gesellschaft

 

Justin Paljuh, 2000 | Luzern, LU

 

Über Geschichte nachzudenken und sie zu diskutieren, bedeutet stets auch, Geschichte zu werten. Diesem «Werten» geht die vorliegende Arbeit nach. Dabei wird anhand einer differenzierten Quellenanalyse die Rezeption der chinesischen Kulturrevolution (1966–1976) in China und im Westen untersucht. Durch die Gegenüberstellung von Akteuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen und Generationen werden Mechanismen nationaler Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung durchleuchtet. Die Analyse ermöglicht ein besseres Verständnis des heutigen China und seines Umgangs mit der eigenen Vergangenheit sowie mit globalen Herausforderungen.

Fragestellung

Für die vergleichende Analyse wurden drei Perspektiven untersucht: die Rezeption im Westen, in der chinesischen Gesellschaft und in der chinesischen Führung. Die Fragestellung lautete: (I) Inwiefern hat sich die Rezeption der Kulturrevolution verändert? (II) Weshalb kam es zu dieser Veränderung der Kulturrevolutionsrezeption?

Methodik

Schritt eins beinhaltete die Aneignung fundierten Grundwissens zur neueren Geschichte Chinas und der Kulturrevolution, gefolgt von der gezielten Suche nach geeigneten Quellen. Schritt zwei beinhaltete die Auswertung der Quellen und die Formulierung von Erkenntnissen. Die Arbeit stützt sich auf Zeitungsartikel, Interviews sowie Romane und autobiografische Geschichten. Aus Gründen der Nachverfolgung und Verifizierung liegt der Fokus auf schriftlichen Quellen. Aufgrund begrenzter Kenntnisse der englischen und chinesischen Sprache beschränkt sich der Quellenpool auf deutschsprachige Quellen. Als Methode zur Auswertung der Quellen wurde die Quellenanalyse gewählt, also die vergleichende Auswertung schriftlicher oder verschriftlichter Quellen zur Analyse des Diskurses. Hierbei diente ein Raster der Textanalyse. Dieses Raster wurde eigens für die vorliegende Arbeit entworfen und den jeweiligen Perspektiven angepasst.

Ergebnisse

Die Rezeption im Westen veränderte sich von einer positiv euphorischen oder gar verklärenden Haltung über eine schüchterne Verurteilung bis hin zur negativen Dogmatisierung, die heute vorherrschend ist. Dieser Wandel ist primär auf eine veränderte internationale Lage zurückzuführen. Beide Dogmatisierungen, ob verklärend oder verurteilend, behindern eine differenzierte Betrachtung der Kulturrevolution bis heute.
Auch die Rezeption in der chinesischen Gesellschaft hat sich stark gewandelt. Hier sind die Veränderungen aber vor allem in den einzelnen Generationen wahrzunehmen und auf unterschiedliche Kollektiverlebnisse zurückzuführen. In der heutigen Generation gerät die Kulturrevolution zunehmend in Vergessenheit. Die Machthaber setzen auf Verdrängung oder, wenn dies nicht gelingt, auf Verklärung. Die Rezeption in der chinesischen Führung ist von der jeweils regierenden Führungsgeneration abhängig. Auch hier hat es in den letzten 50 Jahren Veränderungen gegeben. Diese fielen um der Wahrung der Stabilität willen weniger stark aus. Die zweite Führungsgeneration hielt 1981 fest, dass die Kulturrevolution durchaus ein Fehler war, die Schuld aber nicht bei Mao Zedong zu suchen sei. Dies gilt bis heute. Die aktuell fünfte Führungsgeneration unter Xi Jinping erlebte die Kulturrevolution nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter mit. Dies ist der Grund für ihre Politik des Verschweigens oder Verklärens.

Diskussion

Durch die Methode der Quellenanalyse konnte für jede der drei Perspektiven aufgezeigt werden, dass, wie und weshalb sich die Kulturrevolutionsrezeption verändert hat. Das eigens für die Auswertung der Quellen entworfene Textanalyse-Raster hat sich durchaus bewährt, denn es ermöglichte, die unterschiedlichen Quellen analytisch vergleichend auszuwerten. In einem weiteren Schritt könnten nun weitere Quellen, besonders solche, die nur in chinesischer Sprache vorhanden sind, mit eben diesem Raster ausgewertet werden, um die Quellendichte zu vergrössern.

Schlussfolgerungen

Mit dieser Arbeit wird anhand der chinesischen Kulturrevolution aufgezeigt, wie unterschiedlich Gesellschaften mit sensiblen Ereignissen in der Geschichte umgehen. Darüber hinaus wurde sichtbar, dass neben der Verklärung und Tabuisierung in China auch die Rezeption im Westen mit ihrer dogmatischen Voreingenommenheit eine ausgewogene Sichtweise auf diese Bewegung verhindert hat. Statt aus dieser beispiellosen Kampagne lehrreiche Schlüsse zu ziehen, kann die Rezeption der Kulturrevolution insgesamt als eine gescheiterte Erinnerungskultur bezeichnet werden.

 

 

Würdigung durch die Expertin

Dr. Martina Wernsdörfer

Die Arbeit überzeugt durch Wissenschaftlichkeit und Denkvermögen.
Besondere Anerkennung gebührt dem für die vergleichende Quellenanalyse eigens entwickelten Raster.
Die zentrale Frage nach dem Umgang mit und der Wertung von Geschichte ist von zeitaktueller Relevanz. Am Beispiel der Chinesischen Kulturrevolution werden die gesellschaftspolitische Aufarbeitung von sensiblen historischen Ereignissen und stereotype Sichtweisen darauf problematisiert. Aus der Literatur gewonnene Erkenntnisse werden hinterfragt, und die persönliche Haltung wird in Relation zu diesen stets kritisch reflektiert.

Prädikat:

hervorragend

 

 

 

Kantonsschule Reussbühl
Lehrer: lic . phil. Christian Fallegger