Geschichte  |  Geographie  |  Wirtschaft  |  Gesellschaft

 

Stephanie Wick, 2003 | Bremgarten , AG

 

Anna Kathrine Hofstetter gebar 1886 als ledige Frau die Tochter Lina. Kurze Zeit nach der Geburt fand ein Vaterschaftsprozess statt, bei dem ein Mann zum Vater erklärt wurde. Aufgrund diverser, in der Arbeit aufgezeigter Gründe, ist aus heutiger Sicht zweifelhaft, dass es sich dabei um den biologischen Vater von Lina handelte. Ausgehend von der Frage nach dem wirklichen Vater von Lina, befasst sich die Arbeit mit den möglichen wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen einer ledigen Geburt und Mutterschaft Ende des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen. Es wird das Leben der beiden Frauen fragmentarisch rekonstruiert und ein Bild der damaligen Rolle der Frau in der Gesellschaft gezeichnet.

Fragestellung

Das Ziel der Arbeit ist, zu zeigen, mit welchen Herausforderungen eine ledige Mutter Ende des 19. Jahrhunderts in der Ostschweiz konfrontiert gewesen war. In diesem Zusammenhang wurden das Zivilrecht im Kanton Appenzell Ende des 19. Jahrhunderts, die wirtschaftliche Situation der Arbeiterschicht und die grundsätzliche Haltung in der damaligen Rechtsprechung und den Gesetzen in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte der Frauen untersucht. Diese Erkenntnisse helfen, das Leben meiner Ururgrossmutter, welche als uneheliches Kind geboren worden war, sowie ihrer Mutter zu skizzieren.

Methodik

Bei meiner Forschungsarbeit habe ich primär historische Fachbücher, welche das Leben im 19. Jahrhundert beschreiben, beigezogen. Ergänzend dazu habe ich Internetrecherche betrieben. Weiter habe ich mich mit dem Leben meiner Ururgrossmutter befasst, Fotos und Briefe aus dem Nachlass meiner Grossmutter durchforscht und auch das Staatsarchiv Herisau besucht, um mehr über ihre Personalien und die Verwandtschaftsverhältnisse zu erfahren. Dabei bin ich auch auf das Gerichtsprotokoll des Vaterschaftsprozesses gestossen, welches viele Informationen enthält.

Ergebnisse

Die Hauptergebnisse der Arbeit zeigen, welche Marginalisierung und Verachtung ledige Mütter und ihre Kinder erfahren haben. Frauen wurden nicht als vollwertig und erwachsen betrachtet, wenn sie nicht verheiratet waren und ein traditionelles Familienbild erfüllten. Auch die Zukunft der unehelichen Tochter gestaltete sich schwierig, da sie schlechtere Heiratschancen hatte und somit die Gefahr bestand, dass sich bei ihr das gleiche Schicksal wiederholte. Ein weiteres Problem war die Finanzierung des täglichen Unterhalts. Die Frau musste allein für das Kind sorgen und oft unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen in der Fabrik arbeiten; zu einem Lohn, der viel tiefer war als derjenige eines Mannes. Unterstützung vom Staat gab es keine. Ein Kind allein grosszuziehen trieb die Frau oft in die Armut. Frauen waren gesellschaftlich grundsätzlich schlechter gestellt und standen unter der Vormundschaft des Mannes. Eine uneheliche Mutterschaft belastete die Situation noch zusätzlich. Die Chance, sich davon gesellschaftlich, wirtschaftlich oder sozial je zu erholen, lag praktisch bei Null.

Diskussion

Die Recherchen im Staatsarchiv und die Suche nach weiteren schriftlichen Belegen aus dem Leben meiner Ururgrossmutter waren zeitintensiv, aufwändig und relativ wenig ergiebig. Feststellen zu müssen, dass sich das Rätsel um Linas Vaterschaft aufgrund fehlender mündlicher Überlieferungen möglicherweise nicht lösen lässt, enttäuschte mich. Dank meiner historischen Recherchen zum gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld meiner Protagonistin, konnte ich jedoch andere bedeutende Erkenntnisse gewinnen und zum Beispiel aufzeigen, warum es zu einem Vaterschaftsprozess kommen musste und warum eine ledige Mutterschaft in jener Zeit ein Problem darstellte. Gesamthaft lässt sich sagen, dass meine Arbeit aufgrund der zeitintensiven Recherche und der Tatsache, dass gewisse Bücher wegen ihres Alters nur in den Bibliotheken vor Ort angeschaut werden durften, mehr Zeit in Anspruch genommen hat, als gedacht.

Schlussfolgerungen

Ich kann mir vorstellen, dass sich auch in der Geschichte anderer Familien ähnliche Schicksale finden lassen, welche totgeschwiegen werden. Dadurch, dass ich mich in das Leben von Lina und ihrer Mutter vertieft und die Umstände jener Zeit erforscht habe, kann nachvollzogen werden, weshalb eine uneheliche Geburt vor einigen Generationen noch ein Tabu-Thema war. Nach wie vor reizt mich das Rätsel um den biologischen Vater von Lina. Es bräuchte dazu noch weitere Archivarbeit; insbesondere zur Identität von möglichen biologischen Vätern.

 

 

Würdigung durch die Expertin

Dr. Lina Gafner

Stephanie Wick hat sich mit ihren Vorfahrinnen beschäftigt. Die Feststellung, dass die Geschichte ihrer Ururgrossmutter in der Familie tabuisiert wurde, machte sie neugierig. Die Fabrikarbeiterin Anna Kathrine Hofstetter (1861-97) war ledige Mutter einer Tochter. Unverheiratete Mütter hatten im 19. Jahrhundert mit strukturellen Diskriminierungen und gesellschaftlicher Ächtung zu kämpfen. Die Autorin spürt die zugrundeliegenden Mechanismen auf, beschreibt deren Auswirkungen und stellt die Geschichte ihrer Vorfahrinnen damit in einen breiteren historischen und gesellschaftspolitischen Kontext.

Prädikat:

sehr gut

 

 

 

Kantonsschule Wohlen
Lehrer: Matthias Schwank