Geschichte | Geographie | Wirtschaft | Gesellschaft
Thomas Jäschke, 2002 | Arlesheim, BL
Das chinesische Sozialkreditsystem (SKS) ist ein gross angelegtes Projekt und doch in Europa weitgehend unbekannt. Herauszufinden, worauf das System basiert, wie es funktioniert und welche Auswirkungen es global und speziell auf die Schweiz haben könnte, ist Ziel dieser Arbeit. Dazu wurden gesellschaftlich-kulturelle Hintergründe, Eckpfeiler seiner Funktionsweise und mögliche Kanäle internationaler Einflussnahme untersucht und Zusammenhänge zwischen Elementen der chinesischen Geschichte und solchen des SKS aufgezeigt. Da sich das SKS noch in der Entwicklung befindet und sich mitunter verändert, konnten über mögliche Auswirkungen, insbesondere auch auf die Schweiz, erst Vermutungen angestellt werden. Diese Arbeit erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Indem den schriftlichen Quellen Eindrücke und Erfahrungen von Gesprächspartnern gegenübergestellt wurden, wurde versucht, das Sozialkreditsystem nicht aus einem rein westlichen Blick zu betrachten.
Fragestellung
(I) Um das SKS besser verstehen und in einen Kontext setzen zu können, wurde nach historischen und kulturellen Hintergründen gefragt. (II) Um ein grobes Bild der Funktionsweisen des SKS zu skizzieren und sich den Grundmechanismen, dem Ausmass sowie dem Entwicklungsstand des Systems anzunähern, wurden Teilaspekte untersucht und in Diagrammen erfasst. (III) Schliesslich wurde ein Blick auf internationale Einflusskanäle geworfen, um der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen das SKS global und speziell auf Europa und die Schweiz haben könnte.
Methodik
Als Grundlage der Informationsbeschaffung dienten wissenschaftliche Studien und Untersuchungen, Beiträge in Fachmagazinen, journalistische und persönliche Berichte über die chinesische Gesellschaft sowie Übersetzungen chinesischer Regierungsdokumente. Diese Quellen wurden unter Bezugnahme auf die drei Fragestellungen und die Forschungsfrage analysiert und ausgewertet. Den gewonnenen Informationen wurden Aussagen aus persönlichen Gesprächen mit Chinakennern und Personen, die aus eigener Erfahrung über das SKS und die chinesische Gesellschaft berichten können, vergleichend gegenübergestellt und so einer rein westlichen Sichtweise entgegengewirkt.
Ergebnisse
(I) Es wurde erkannt, dass es für ein Verständnis des SKS nötig ist, Aspekte aus der Vergangenheit miteinzubeziehen. Das Vertrauen in die Herrschenden und der Glaube an ihre Vorbildfunktion sowie das hierarchische Gesellschaftsdenken aus dem Konfuzianismus, aber auch die Bildung einer Misstrauenskultur durch die Kulturrevolution und den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung seit den 1980er-Jahren führten zu einer grossen Akzeptanz des Systems in China. (II) Das SKS ist ein System zur Überwachung und Erziehung von Bürgern, Unternehmen und Staatsangestellten. Es bedient sich dabei unterschiedlicher Systeme von Belohnungen und Bestrafungen, die unverhältnismässig zu den Handlungen funktionieren. Mittels dieser Mechanismen sollen Menschen zum gewünschten Verhalten animiert werden. (III) Die Volksrepublik China ist ein wichtiger Akteur im Weltgeschehen mit erheblichem Einfluss auch auf Europa. Eine internationale Ausbreitung des Sozialkreditsystems ist jedoch nicht absehbar.
Diskussion
(I) Im ersten Teil der Arbeit wurde das SKS in den historischen und kulturellen Kontext gesetzt. Es gelang, Parallelen zu Denkansätzen vor allem aus dem Konfuzianismus zum Funktionieren von Gesellschaft aufzuzeigen. (II) Im zweiten Teil wurden wichtige Grundmechanismen des Systems hervorgehoben, Ausmass und Reichweite des Systems wurden angedeutet. Über den Entwicklungsstand konnten aufgrund der geringen Anzahl an aussagekräftiger, aktueller Forschungsliteratur und wegen des schnellen Wandels des Systems nur in Teilbereichen Aussagen gemacht werden. (III) Basierend auf den Teilen eins und zwei, wurden im dritten Teil mögliche Auswirkungen des Systems skizziert. Grundsätzlich waren persönliche Gespräche in Ergänzung zu den Texten eine gute und notwendige Informationsquelle, die noch hätten ausgeweitet werden können.
Schlussfolgerungen
Die Arbeit konnte die Eigenart des Sozialkreditsystems aufzeigen. Mit dem Blick auf seine Wurzeln, seine Funktionsweise und seine Entwicklungspotenziale wurde eine Brücke von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft geschlagen, wobei die künftige nationale und globale Bedeutsamkeit des Systems weitgehend offengelassen werden musste. Dem System inhärente, problematische Aspekte wurden ebenso kritisch beleuchtet wie einseitige westliche Sichtweisen auf das System. Es wurde eine Annäherung an einen komplexen Organismus im Wandel erreicht, der sich, bedingt durch unterschiedlich einwirkende Kräfte, stetig neu formt.
Würdigung durch die Expertin
Dr. Martina Wernsdörfer
Das chinesische Sozialkreditsystem (SKS) wird im Westen häufig negativ, als Instrument eines digitalen Überwachungsstaates zur totalen Kontrolle der Gesellschaft betrachtet. Wie aber funktioniert dieses sich noch im Aufbau befindliche ‚Experiment‘ und worauf basiert es? Dieser Frage widmet Thomas Jäschke seine Arbeit. Er beleuchtet historische Wurzeln, diskutiert aktuelle Funktionsmechanismen und skizziert künftige Entwicklungstendenzen. Durch seine beeindruckende Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema schafft der Autor die wichtige Grundlage für ein differenzierteres Verständnis des SKS.
Prädikat:
sehr gut
Gymnasium Muttenz
Lehrerin: Chantal Morand