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Janina Johner, 2002 | Grafstal, ZH
Die Arbeit „Antisemitische Schweiz? Untersuchungen im Nachlass von Sigi Feigel“ behandelt den Antisemitismus in der Schweiz der 1990er-Jahre – jener Zeit, in der hierzulande die Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen entflammte. Dies geschieht auf der Basis des umfangreichen Nachlasses von Sigi Feigel, einem der damals bekanntesten jüdischen Vertreter in der Schweiz. Konkret beschäftigt sich die Arbeit mit den Zuschriften, die Feigel in den Jahren 1996 bis 2000 von Autorinnen und Autoren aus der ganzen Schweiz bekommen hat – darunter auch sehr viele mit antisemitischen Inhalten. Anhand dieser Zuschriften wird analysiert, welche Formen des Antisemitismus es in der Schweiz der 1990er-Jahre gab und wo ihre Wurzeln liegen. Dabei ist festzustellen, dass der Antisemitismus keineswegs ein rein rechtsradikales Phänomen ist. Er besitzt viele verschiedene Gesichter.
Fragestellung
Ziel der Arbeit war es, die unterschiedlichen Gesichter des Antisemitismus zu definieren, greifbar zu machen sowie Erklärungen für sie zu finden. Im Zentrum stand dabei folgende Leitfrage: (I) Welche unterschiedlichen Typen von Antisemitismus sind im Nachlass von Sigi Feigel zu finden? (II) Wie lassen sie sich erklären?
Methodik
Zur Beantwortung der Leitfrage wurde das Quellenmaterial, das vom Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich verwaltet wird, untersucht. Diese Untersuchung erfolgte in mehreren Teilschritten. Da der gesamte Nachlass mit einer Gesamtlänge von zirka 3,25 Laufmetern sehr umfangreich ist, wurde zunächst das tatsächlich zu untersuchende Quellenmaterial auf 0,33 Laufmeter eingegrenzt. Dieser Teil wurde nochmals sortiert, um sicherzustellen, dass in der Arbeit nur relevante Textquellen verwendet werden. Dieses sortierte Material wurde in einem nächsten Schritt durchnummeriert und anschliessend in verschiedene Kategorien eingeteilt. Jede Kategorie stand dabei für eine andere Form des Antisemitismus. In einem letzten Schritt wurden die bei der Sortierung gewonnenen Erkenntnisse verschriftlicht.
Ergebnisse
Bei der Quellenarbeit wurden die Textquellen in verschiedene Kategorien eingeteilt. Diese Kategorien entsprechen den Formen von Antisemitismus, die in den Zuschriften an Feigel zu finden sind. Folgende vier Formen des Antisemitismus sind im Nachlass von Sigi Feigel festgestellt worden: Antijudaismus, Antisemitismus, der wegen der nachrichtenlosen Vermögen entstand, rassischer Antisemitismus und israelkritischer Antisemitismus. Die einzelnen Arten des Antisemitismus lassen sich zudem noch in verschiedene Unterarten unterteilen.
Diskussion
Die Fragestellung konnte klar beantwortet werden, wenn auch die gewählte Methode äusserst zeitaufwendig war. Die Ergebnisse der Untersuchung sind zwar nicht für die ganze Schweiz repräsentativ, aber sie ergeben ein spannendes Bild über den Antisemitismus in der Schweiz in den 1990er-Jahren. Zum Teil überraschten die Ergebnisse, da die Zuschriften von ganz verschiedenen Leuten mit unterschiedlichen sozialen und politischen Hintergründen stammten. Die Diversität bei den Autorinnen und Autoren war, soweit die Hintergründe aus den Zuschriften erkennbar waren, grösser als anfangs vermutet. Die meisten hasserfüllten Zuschriften stammten nämlich nicht von Neonazis oder erklärten Judenhassern, sondern vielmehr von ansonsten unauffälligen Bürgerinnen und Bürgern der Schweiz.
Schlussfolgerungen
Da sich die Briefe keinem politischen Schema zuordnen liessen und es eine grosse Vielfalt an Hintergründen gab, wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass antisemitische Haltungen in der Schweiz der 1990er-Jahre in der ganzen Gesellschaft verbreitet waren. Dabei wurde sichtbar, dass die Jüdinnen und Juden in ihrer Rolle als das vermeintlich Fremde für zahlreiche Probleme und angebliche Missstände in der damaligen Schweiz verantwortlich gemacht wurden.
Würdigung durch den Experten
Prof. Dr. Erik Petry
Janina Johner untersucht eine Sammlung von Briefen, die an den Zürcher Rechtsanwalt Sigi Feigel zwischen 1996 und 2000 geschrieben wurden. Frau Johner folgt in ihrer Arbeit eindrücklich streng einem geschichtswissenschaftlichen Vorgehen: Sie erläutert den historischen Kontext, definiert den Begriff Antisemitismus sowie die Analysekriterien und untersucht dann die Briefe. Dabei zieht sie texthermeneutisch basiert auch Rückschlüsse auf den Hintergrund der Briefschreiber. Die Frage, ob man aus den Briefen auf eine antisemitische Schweiz schliessen könne, wird sehr differenziert beantwortet.
Prädikat:
sehr gut
Kantonsschule Zürcher Oberland, Wetzikon
Lehrer: Dr. Thomas Müller